Reichtum

1 Aug 2018

Im Wesen des Menschen selber liegt die Versuchung, an der Stelle des erfüllten Lebens den seelenlosen äußeren Besitz treten zu lassen, dessen einzige Funktion dann nur noch das leere »Haben« dieser Sache ist, und die abstrakte Form des Geldes wird zur eigentlichen Verkörperung dieses entseelten Besitzes. Was in vernünftigen Grenzen Mittel zur Erhaltung des Lebens war, wird übersteigert, weil der Mensch darin seinen einzigen Halt gegenüber der anders nicht auszuhaltenden Unsicherheit des Lebens sieht und so wird es schließlich zum Selbstzweck, unter dessen Herrschaft das Leben selber erstickt.

Ein Derwisch, dessen Freude die Entsagung und dessen Hoffnung das Paradies war, traf einen Fürsten, dessen Reichtum alles übertraf, was der Derwisch je gesehen hatte. Das Zelt des Adligen, der außerhalb der Stadt zur Erholung lagerte, war aus kostbaren Stoffen, und selbst die Zeltnägel, die es hielten waren aus purem Gold. Der Derwisch, der es gewohnt war, Askese zu predigen, überfiel den Fürsten mit einem Wortschwall, wie nichtig sich der irdische Reichtum, wie eitel die goldenen Zeltnägel, wie vergeblich das menschliche Mühen seien. Wie ewig und herrlich seien dagegen die heiligen Stätten, Entsagung bedeute das größte Glück. Ernst und nachdenklich hörte der Fürst zu. Er ergriff die Hand des Derwisch und sprach: »Deine Worte sind für mich wie die Glut des Mittagssonne und die Klarheit des Abendwindes. Freund, komme mit mir, begleite mich auf dem Weg zu den heiligen Stätten.« Ohne rückwärts zu schauen, ohne Geld, ein Reitpferd oder einen Diener mitzunehmen, begab sich der Fürst auf den Weg. Erstaunt eilte der Derwisch hinterher: »Herr! Sag mir doch, ist es dein Ernst, dass du zu den heiligen Stätten pilgerst? Wenn es so ist, warte auf mich, dass ich schnell meinen Pilgermantel hole.« Gütig lächelnd, antwortete der Fürst: »Ich habe meinen Reichtum, mein Gold, mein Zelt, meine Diener und alles, was ich hatte, zurückgelassen, musst du dann wegen eines Mantels den Weg zurückgehen?« »Herr«, staunte der Derwisch, »erkläre mir bitte, wie konntest du all deine Schätze zurücklassen und selbst auf deinen Fürstenmantel verzichten?« Der Fürst sprach langsam, aber mit sicherer Stimme: »Wir haben die goldenen Zeltnägel in den Erdboden geschlagen, nicht aber in unser Herz.«