Realität und Wirklichkeit

1 Mär 2017

Zwei Geschichten, des berühmten japanischen Zen-Meister Dogen, verdeutlichen, wie schwer es uns für gewöhnlich fällt, unsere Vorannahmen einzuklammern und einen etwas weniger verzerrten Blick auf die Welt zu richten. Es geht nicht um Glauben oder Nicht-Glauben, sondern, deutlich schwieriger um das eigenen Irren klar zu Erkennen.

Vier Blinde werden gebeten, einen vor ihnen stehenden Elefanten zu beschreiben. Der erste tastet den Rüssel ab und ruft: »Ein Elefant, das ist ein Schlauch!« Der zweite beschäftigt sich mit dem Ohr des Tieres und kommt zu dem Schluss: »Ein Elefant, das ist ein Bananenblatt!« Der dritte tastet den gewaltigen Bauch ab: »Ein Elefant, das ist eine Tonne!« Und der letzte widmet sich dem Schwanz und ist sich ganz sicher: »Ein Elefant, das ist ein Palmwedel!« Wir gehen kaum anders vor, wenn wir uns eine Meinung über die Wirklichkeit bilden. Wir begnügen uns mit dem ersten Eindruck und beteuern, er enthalte die ganze Wirklichkeit.

Die zweite Geschickte führt zu einem chinesischen Gelehrten, der seine Leidenschaft für die Malerei entdeckt und sich dabei auf ein einziges Motiv spezialisiert hat: Drachen. Die Jahre verstreichen. Jahre der Malerei. Der Gelehrte geht ganz in seinem Tun auf. Er malt Drachen um Drachen mit nie versiegender Begeisterung, ohne je einen leibhaftigen Drachen auch nur von der Ferne gesehen zu haben. Eines Tages jedoch dringt die Kunde von des Malers Hingabe an sein Motiv zu einem echten Drachen vor. Er beschließt, dem Gelehrten eine Freude zu bereiten und ihn zu besuchen. Als er den weiten Weg zurückgelegt hat, streckt er den Kopf zum Fenster des Ateliers hinein, um seinen größten Fan zu begrüßen. Doch als der sich umdreht und den Drachen sieht, fährt ihm der Schreck in alle Glieder. Er fällt um und ist tot.
Auch diese Geschichte illustriert sehr gut, wie weit sich unsere Ideen und Gedanken von der Wirklichkeit entfernen können. Wir verwechseln unsere Vorstellungen mit der Realität, wir glauben an unsere liebgewonnenen Klischees und merken nicht, dass wir dabei einem Trugbild aufsitzen. Zerschlägt ein Ereignis dann alle Vermittlungen, treten wir hinaus ins gleißende und unbarmherzige Licht des Erkennens, dann gleicht die Konfrontation mit den Dingen oft einem Schock.

Wir verirren uns, weil wir die Welt nicht so sehen wollen, wie sie wirklich ist. Die Dinge kümmern sich nicht darum, wie wir sie gerne hätten. Sehen wir die Welt wie sie wirklich ist, sehen wir die Dinge in ihrem Da-Sein, in ihrer oft abweisenden Tatsächlichkeit, ohne Filter, ohne Verzerrung. Ein Irrer, wer meint, nicht zu irren.

Aber das ist noch nicht alles, denn eine zusammenfassende Erklärung der Quantenphänomene kam zu der überraschenden Schlussfolgerung, dass es eine objektivierbare Welt, also eine gegenständliche Realität, wie wir sie bei unserer objektiven Betrachtung als selbstverständlich voraussetzten, gar nicht »wirklich« gibt, sondern dass diese nur eine Konstruktion unseres Denkens ist, eine zweckmäßige Ansicht der Wirklichkeit, die uns hilft, die Tatsachen unserer unmittelbaren äußeren Erfahrung grob zu ordnen. [[Hans-Peter Dürr, ehemaliger Leiter des Max-Planck-Instituts München]]