Essay von Ai Weiwei
Wenn ich auf der Straße entlanggehe, halten mich Leute – so wie heute Morgen – an und fragen: „Oh, Sie sind noch in Berlin?“ Ich sage: „Ja, es sei denn, Sie denken, wir sind in Paris.“ Dann antworten sie: „Nein, wir wissen doch alle, dass Sie weg sind.“ Das zeigt, wie mächtig die Medien sind. Wenn die Medien sagen, ich sei weg, dann denken alle, die mich sehen, ich existiere gar nicht mehr. Diese Frage von Existenz oder Nichtexistenz ist für jemanden wie mich, einen Exilanten, nach wie vor ein Problem – aber ich habe mich daran gewöhnt.
Hier ist nun die Kolumne, die ich zum Thema „Was ich über Deutschland lieber früher gewusst hätte“ verfasst habe – einschließlich der zusätzlichen Reflexionen, die das Magazin später anforderte:
• Eine Gesellschaft, die von Regeln beherrscht wird, aber keinen individuellen moralischen Kompass besitzt, ist gefährlicher als eine ohne jegliche Regeln.
• Eine Gesellschaft, die Gehorsam schätzt, ohne Autoritäten zu hinterfragen, ist dazu bestimmt, korrupt zu werden.
• Eine Gesellschaft, die Fehler eingesteht, aber nicht über deren Ursprung reflektiert, besitzt einen Geist, so starr und stumpf wie Granit.
• An einer verlassenen Straße bleiben die Menschen gehorsam an der roten Ampel stehen. Kein Auto weit und breit. Ich dachte einst: Das ist das Zeichen einer hochentwickelten Gesellschaft.
• Im Herzen der Bürokratie liegt eine kollektive Zustimmung zur Legitimität von Macht – deshalb geben Einzelne ihr moralisches Urteil auf, oder sie haben es nie entwickelt. Sie verzichten auf Widerspruch. Sie geben das Streiten auf.
• Wenn Konversation zur Vermeidung wird, wenn Themen nicht angesprochen werden dürfen, leben wir bereits unter der stillen Logik des Autoritarismus.
• Wenn die Mehrheit glaubt, in einer freien Gesellschaft zu leben, ist das oft ein Zeichen dafür, dass die Gesellschaft nicht frei ist. Freiheit ist kein Geschenk – man muss sie der Banalität und der stillen Komplizenschaft mit der Macht entreißen.
• Wenn Menschen spüren, dass Macht unangreifbar ist, lenken sie ihre Energie auf belanglose Streitigkeiten. Und diese Belanglosigkeiten sind kollektiv genug, um die Grundlagen der Gerechtigkeit einer Gesellschaft zu untergraben.
• Wenn öffentliche Ereignisse von großer Tragweite – wie die Nord-Stream-Pipeline-Explosion – von Regierung und Medien mit Schweigen beantwortet werden, wird dieses Schweigen selbst furchterregender als jede Atombombe.
• Fakten werden teilweise anerkannt, absichtlich vergessen oder vom kollektiven Schweigen verschluckt. So wiederholt sich die Katastrophe – immer wieder, in Zyklen.
• Wenn sich die Medien der öffentlichen Meinung unterordnen oder Konflikte meiden, um bei den Herrschenden in Gunst zu bleiben, werden sie zu Komplizen der Macht.
• Was wir „Lüge“ nennen, ist nicht immer eine Verzerrung von Fakten.
• Politische Führer treffen Entscheidungen, die auf Irrtümern und Versagen beruhen. Das spiegelt den allgemeinen politischen Zustand einer Gesellschaft wider, in der die meisten Menschen ihr Bewusstsein und sogar ihre grundlegende Handlungsmacht aufgegeben haben – und es diesen Führern ermöglichen, ihre Fehler in ihrem Namen umzusetzen.
• Wenn eine Gesellschaft sprachliche Unterschiede oder kulturelle Missverständnisse als Ausrede für Ausgrenzung nutzt, hat sie eine heimtückische Form von Rassismus erreicht. Das ist keine politische Meinung – es ist eine Haltung, ein Makel im Blut, vererbt wie Gene.
• Bürokratie ist nicht nur träge. Sie ist kulturelle Verachtung. Sie lehnt Dialog ab. Sie beharrt darauf, dass Unwissenheit, in Regeln gegossen – so falsch und unmenschlich sie auch sein mögen –, der beste Widerstand gegen sozialen Aufstieg und moralische Bewegung ist. In einer solchen Gesellschaft ist Hoffnung nicht fehl am Platz – sie wird ausgelöscht.
• In der Atmosphäre ringsum erkennt man keine Kultur, sondern Selbstbeweihräucherung; keine Kunst, sondern Abgrenzung und kollektive Ehrfurcht vor Macht. Was fehlt, ist Aufrichtigkeit – emotionale und intentionale Ehrlichkeit. In solch einem Umfeld ist es fast unmöglich, Kunst zu schaffen, die sich mit echtem menschlichen Gefühl oder moralischer Auseinandersetzung beschäftigt.
• Ein Ort, der regelmäßig Selbstreflexion ablehnt und individuelle Handlungsfähigkeit auslöscht, lebt bereits unter den eisernen Mauern des Autoritarismus.
• Ich habe keine Familie, kein Vaterland, habe nie gewusst, wie es ist, dazuzugehören. Ich gehöre nur mir selbst. Im besten Fall sollte dieses Selbst allen gehören.
• Ich weiß noch immer nicht, was Kunst ist. Ich hoffe nur, dass das, was ich mache, ihre Ränder berührt, auch wenn es scheinbar nichts damit zu tun hat. Und tatsächlich: Im besten Fall hat es nichts mit mir zu tun, denn das „Ich“ löst sich bereits in allem auf.
• Die Dinge, die in Galerien, Museen und Wohnzimmern von Sammlern ausgestellt sind – sind das Kunstwerke? Wer hat das entschieden? Auf welcher Grundlage? Warum verspüre ich stets Misstrauen in ihrer Gegenwart?
• Werke, die der Realität ausweichen, die sich vor Argument, Kontroverse oder Debatte scheuen – ob Text, Malerei oder Performance –, sind wertlos. Und seltsamerweise ist es genau diese wertlose Kunst, die die Gesellschaft am liebsten feiert.
• Ich verstehe jetzt: Menschen sehnen sich nach Macht und Tyrannei wie nach Sonne und Regen – denn das Gewicht des Selbstbewusstseins fühlt sich wie Schmerz an. Manchmal sogar wie eine Katastrophe.
• In den meisten Fällen wählt die Gesellschaft die Egoistischsten, am wenigsten Idealistischen unter uns, um das zu tun, was wir „Kunst“ nennen – weil diese Wahl allen ein Gefühl von Sicherheit gibt.
Zusätzliche Reflexionen
• In Berlin begegne ich überall Schweinshaxe und Schnitzel – und ich kann kaum glauben, dass ein so hochentwickeltes Land eine derart monotone Auswahl an Zutaten bietet. Noch verblüffender ist die plötzliche Vermehrung chinesischer Restaurants – die meisten davon auf Nudeln spezialisiert und auf einem kulinarischen Niveau, das jede chinesische Person zu Hause problemlos erreichen könnte. Die Vielfalt an Speisen und Zubereitungsmethoden ist hier so begrenzt, dass Menschen aus aller Welt gezwungen sind, Restaurants zu eröffnen: Vietnamesisch, Thailändisch, Türkisch – alles ist vertreten.
• Aber das wirklich Erschreckende? Die schiere Anzahl chinesischer Restaurants. Ich kann nur vermuten, dass sie glauben, dass Deutsche alles essen, was man ihnen auf den Teller legt. Vor manchen dieser Lokale bilden sich sogar lange Schlangen – obwohl das, was dort serviert wird, kaum noch etwas mit authentisch chinesischer Küche zu tun hat.
• Mein Lieblingsessen in Deutschland: Brot und Wurst – so etwas mit solchem Charakter findet man sonst nirgendwo.
• Es verwundert mich, warum so viele Menschen sich freiwillig in eine enge Bar drängen, nur um ein langes Gespräch zu führen. Da ich die Sprache nicht spreche, kann ich nur vermuten, dass die jungen Leute in Berlin über das Clubleben reden. Solche Themen waren in den USA in den 1970er- und 1980er-Jahren angesagt.
• Die Deutschen könnten das Volk sein, das wirklich am weitesten vom Humor entfernt ist. Vielleicht liegt das an ihrem tiefen Respekt für Rationalität. Man denke nur an den Berliner Flughafen oder die Werbung für Mercedes-Benz – da bekommt man das Gefühl, ihr Mangel an Humor sei selbst eine Art gigantischer Humor.
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